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Trauerfeier für Prof.Dr.Dr.h.c.Wolfgang Gesemann München 27.August 2014
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Sehr verehrte Trauergemeinde,

Wir haben uns heute versammelt, um Professor Wolfgang Gesemann, der am 17.August 2014 verstorben ist, die letzte Ehre zu erweisen. Nicht nur im Namen der Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft, deren Gründungs- und Ehrenmitglied er war, sondern auch im Namen des Deutschen Slawistenverbandes, dem Institut für Slawische Philologie der Universität München, der Südosteuropa-Gesellschaft, der Wolfgang Gesemann als eines der ältesten Mitglieder seit dem Jahre 1955 angehörte, verneigen wir uns in tiefer Achtung vor dem Lebenswerk des Verstorbenen. Sein fast 90 Jahre währendes bewegtes Leben in den Jahren vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Stück Geschichte. Wolfgang Gesemann verkörperte ein Gelehrtenschicksal, das stilles Heldentum eines geistigen Menschen in seinem Ringen mit widrigen Berufs- und Lebensumständen umschloss. Heute blicken wir zurück auf die wissenschaftliche Entwicklung des Verstorbenen, der sicher den großen Vorteil hatte, von der slawistischen Forschungstätigkeit seines Vaters Gerhard Gesemann während der Prager Zeit angeregt worden zu sein, der zugleich aber alle Härten der Kriegs- und Nachkriegszeit, insbesondere bei der Verwirklichung seiner Studienpläne an der Universität München durchstehen musste. Wolfgang Gesemanns Humor gab seinem oft allzu bescheidenen Auftreten etwas Versöhnliches, seine Bereitschaft, dem anderen zuzuhören und sich in seine Sorgen hineinzudenken, wie ich das besonders während der gemeinsamen Münchener Jahre erleben durfte, machte ihn zu einem warmherzigen väterlichen Freund.
Wolfgang Gesemann wurde am 28.Juli 1925 im ostpreußischen Allenstein, dem heutigen Olsztyn, als Sohn des an der Deutschen Universität Prag lehrenden Slawisten und Balkanologen Gerhard Gesemann und dessen Frau Kristel, geborene Gradowski, geboren. Seine Jugend und seine Schulzeit verbrachte er in Prag, wo er sicher frühzeitig und andauernd mit der dortigen tschechischen Bevölkerung in Kontakt kam. Mit der Gründung des „Deutschen Wissenschaftlichen Instituts“ in Belgrad im Jahre 1941, wo sein Vater die Leitung übernommen hatte, kam er mit einem weiteren slawischen Volk, den Serben, in Kontakt. Nach dem Abitur in Prag erfolgte im Jahre 1943 unmittelbar seine Einberufung zum Militärdienst. Nach längerer französischer Kriegsgefangenschaft bis zum Jahre 1948 nahm er dann 1952 an der Universität München unter den schwierigen Verhältnissen der Nachkriegszeit seine Studien auf, an erster Stelle des Faches Slawische Philologie, daneben Anglistik und Philosophie sowie auch Romanistik und Soziologie. Seine Lehrer im Hauptfach Slawische Philologie waren Paul Diels, Erwin Koschmieder, Alois Schmaus und Wilhelm Lettenbauer, in der Anglistik Wolfgang Clemen und in der Philosophie Alois Dempf. Seine Dissertation aus dem Bereiche der bulgarischen Literatur mit dem Thema „Epische Studien: Der Roman bei Ivan Vazov“ wurde von Erwin Koschmieder betreut und Anfang 1956 von der Philosophischen Fakultät der Universität München angenommen, jedoch erst 1966 in Buchform in der von Alois Schmaus begründeten und herausgegebenen Reihe „Slavistische Beiträge“ veröffentlicht. Diese erste wissenschaftliche Veröffentlichung machte ihn frühzeitig in Bulgarien bekannt. Vom literarischen Standpunkt aus betrachtet erweist sich der bulgarische Nationalschriftsteller Ivan Vazov nach Wolfgang Gesemann nämlich an Hand des europäischen Maßstabes seiner Zeit als Nachfahre Victor Hugos ebenso wie auch der Tradition russischer Realisten.
Nach der Promotion arbeitete Wolfgang Gesemann am Osteuropa-Institut München, dann am Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und schließlich am Institut für Slawistik an der Universität Mainz. In seiner Münchener Habilitationsschrift befasste er sich mit der „Entdeckung der unteren Volksschichten durch die russische Literatur“, erschienen 1972 als Band 39 der „Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München“, herausgegeben von dem führenden Ost- und Südosteuropahistoriker Georg Stadtmüller. 1970 erhielt Wolfgang Gesemann u.a. aufgrund dieser Abhandlung die Venia legendi für das Fach Slawische Philologie und war in den folgenden beiden Jahren als Privatdozent an der Universität München tätig. Nach einer Gastprofessur an der Universität Salzburg lehrte und forschte Wolfgang Gesemann von 1972 bis 1987 als Professor für Slavistik an der Universität des Saarlandes. Gemeinsam mit dem Saarbrücker Theologen Gert Hummel und der Bulgaristin Rumjana Zlatanova begann er die damals wegweisende und in der Bundesrepublik Deutschland einzigartige Kooperation mit der Universität Sofia, die durch zahlreiche gemeinsame Projekte über den Bereich der Bulgaristik weit hinausreichend in den seinerzeit in Folge der neuen Ostverträge rasch wachsenden deutsch-bulgarischen Kulturbeziehungen und der Einrichtung eines Lektorates für Bulgarisch an der Universität des Saarlandes einen sichtbaren Ausdruck fand. Die Verdienste Wolfgang Gesemanns um die Entwicklung der Bulgaristik in Deutschland wurden 1996 durch die Verleihung der Würde eines Doctor honoris causa der Universität Sofia gewürdigt, im Juli 2008 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1987 wirkte Wolfgang Gesemann weiter vor allem für die Förderung der deutsch-bulgarischen Kulturbeziehungen, deren Vertretern er jederzeit mit seinem Rat und seiner Tat zur Seite trat. Als es 1994 darum ging, im Gegenzug zum Abbau der Ost- und Südosteuropastudien in Deutschland mit einer Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft eine wissenschaftlich ausgerichtete Vereinigung ins Leben zu rufen, die sich die Intensivierung der deutsch-bulgarischen Beziehungen zur Aufgabe machen sollte, war Wolfgang Gesemann einer der ersten, die diesen Plan als Gründungsmitglieder tatkräftig unterstützten und das war bis zu seiner Erkrankung unverändert so geblieben, dass wir stets mit seinem Rat und seiner Hilfe rechnen konnten. Seiner Anregung folgend wurde am 31.Mai 1996 in der „Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz“ die „Deutsch-Bulgarische Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen Deutschland und Bulgarien“ begründet, ferner ein von der Gesellschaft betreutes „Bulgarien-Jahrbuch“ neu herausgegeben und die „Bulgarische Bibliothek“, in den Jahren des Ersten Weltkrieges begründet von dem Leipziger Romanisten und Balkanologen Gustav Weigand, verlegt, eine Reihe, die es mit ihrer neuen Folge inzwischen auf die stattliche Zahl von 20 Bänden gebracht hat. Beide Reihen hat er als Mitherausgeber von Anfang an begleitet. Einer am 4.November des Jahres 2005 in der Botschaft der Republik Bulgarien in Berlin zusammengetretenen Festversammlung anlässlich seines 80.Geburtstages ließ Wolfgang Gesemann seinerzeit wissen: „Im Rückblick scheint mir, dass ich für unser geliebtes Bulgarien mehr hätte leisten können, wären die äußeren Umstände für mich nicht oftmals sperrig gewesen. Nicht alle Blütenträume gehen auf. Dennoch gelten meine Kräfte auch weiterhin dem Land, das mir am Herzen liegt. Ich freue mich zugleich, wenn auch andere und insbesondere die Jüngeren auf bulgaristischem Gebiet arbeiten und somit unser Anliegen weiter führen werden. Meine herzliche Bitte an Sie wäre diese: Möge ein Jeder auf seine Weise in unserer Deutsch-Bulgarischen Gesellschaft aktiv mitwirken, um die Kenntnisse der bulgarischen Kultur nach Kräften zu vermitteln. Wie schon das Wirken der engagierten bulgarischen Aufklärer seit den Tagen Paisij Chilendarskis bedarf es auch unsererseits eines entsprechenden Idealismus, Bulgariens geistigen Beitrag für Deutschland und ein geeintes Europa stärker zu erschließen, weiter zu reichen und sein Potenzial voll zur Entfaltung zu bringen.“
Das Bild Wolfgang Gesemanns wird fortbestehen als das eines großen Gelehrten, als eines Vielerfahrenen, der stets guten Rat zu geben wusste, und bei allen, die ihm nahestehen durften, als das eines gütigen Menschen. Die deutsche Bulgarienforschung hat mit Wolfgang Gesemann einen ihrer führenden Vertreter, einen bei uns kaum übertroffenen Interpreten der bulgarischen Kultur verloren, eine Persönlichkeit, die neue Wege wies, einen Humanisten im wahrsten Sinne des Wortes, einen bedeutenden Menschen und Geist in einer entscheidenden Epoche.

Helmut W. Schaller